Der Anti-Google Artikel gehört bei der FAZ ja mittlerweile dazu wie der Penis zum Jauch Gast. Seit Monaten lamentieren diverse Autor_innen über die allmächtige Technokratie, bzw. das aktuelle Zusammenspiel von internationalen Konzernen, Forschung und Staat, das sie fälschlicherweise als Technokratie bezeichnen. Das böse Google, das rücksichtslose Facebook, die digitalen Kapitalisten und so weiter und so fort, ständig gibt es einen neuen Artikel zum Thema, damit ja kein Vergessen aufkommt: die omnipräsente latente Dauerbedrohung einer nicht greifbaren gesichtslosen Macht, die nachts heimlich aus dem Handy hervorkriecht und unsere Daten stiehlt und generell unser aller Leben verpfuschen will.
Dazu wurde schon viel gesagt und viel lamentiert, viel diskutiert und analysiert, mal gut, mal weniger gut. Auch ich fand meine Empörung meist ausgelöst durch die undurchsichtige Intention der Schreiber_innen - was genau ist das Problem? Dass es digitale Geschäftsmodelle gibt? Dass wir unser aller Verständnis von Daten und Privatsphäre neu überdenken müssen? Dass unsere Regierung im Kontext der digitalen Revolution sehr weit hinterher hinkt, weiter, als andere Staaten?
Das Bildungsbürgertum in Angst
Doch gestern dann fand ich einen neuen Aspekt, etwas, das es mir nun alles sehr viel schlüssiger erscheinen lässt. Offenbart durch diesen Artikel zu Googles selbst fahrenden Auto, der nur so vor hinkenden Vergleichen trieft, kann ich es jetzt nicht mehr übersehen: in all der Debatte geht es um eine klassische Statusdebatte. Das Bildungsbürgertum wehrt sich mit letzter Kraft gegen die digitale Durchdringung der Gesellschaft, die so viele Nachteile anderer Milieus ausgleichen kann*, und somit den eigenen Status gefährdet.
Nichts hat die Gesellschaft so nachhaltig in den letzten Jahrzehnten verändert wie das Internet. Informationen sind nur ein paar Klicks weit entfernt, Artikel aus großen Zeitungen wie der ZEIT, der FAZ oder meinetwegen der BAMS sind frei nachlesbar. Mit Wikipedia gibt es eine endlose Ressource an Wissen, das mittlerweile selbst an Schulen und Hochschulen akzeptiert ist. Man muss kein Lexikon mehr besitzen, sich im Ausleihsystem der Bibliothek zurecht finden oder ein Abo einer Zeitung besitzen, um sich weiterzubilden. Auf Youtube finden sich Tutorials für so gut wie alles - von Hemden bügeln bis Lidstrich ziehen, von Etikette bei formellen Dinnern bis hin zu Crashkursen zu Opern. Kulturelles Kapital, das große Werkzeug der Abgrenzung und Banner des eigenen Habitus, kann sich - bis zu einem oberflächlichen Grad - schneller angeeignet werden, als je zuvor. Das Wissen des Bildungsbürgertums liegt damit frei verfügbar herum, was bleibt, sind Habitus und Codes in der Interaktion untereinander, die eine letzte Sicherheit von „unter sich sein“ bieten.
Nun ist es nichts neues, dass bestimmte Schichten ihre Privilegien und vor allem ihren Status bewahren möchten, und für ihre Kinder mindestens genauso gute Startmöglichkeiten schaffen wollen. Besonders sieht man dies immer wieder in den unsäglichen Bildungsdebatten, zuletzt in Hamburg, als Mittelschichtsangehörige Bürger_innen mit einer Angstkampagne dafür sorgten, dass Kinder aus bildungsfernen Familien auch weiterhin in vielen Bereichen nicht teilhaben können. Die Intention - die keine böswillige sein muss - ist letztendlich egal, was bleibt, ist die Kraft und Sogwirkung, die das Bildungsbürgertum in seinen eigenen Anliegen entwickeln kann.
Wenn sie sich keine Autos leisten können, sollen sie halt Taxi fahren
Dass es dabei nicht immer ganz logisch zugeht, offenbart der Text von Maak recht gut: Autos, so schreibt er, seien Symbole der Freiheit, ohne Lenkrad sei es kein Auto, Autofahren wäre genießen, und die schlimmen Pendler, nun, die verstopfen nur die Straßen und sollen ohnehin lieber auf den ÖPNV umsteigen - oder Taxi fahren. Das selbst fahrende Auto würde nur Daten generieren, die dann der Staat zur Verfügung hätte (eine interessante Gleichsetzung von Google und Staat, wo doch viel interessanter wäre an dieser Stelle einmal die Anteilseigner der jeweiligen Konzerne - sei es Google, Facebook oder sonst was - zu beleuchten. Doch börsennotierte Unternehmensstrukturen zu durchleuchten, und die privaten Investor_innen auch in Deutschland zu betrachten, ist wohl zu viel des Guten - vor allem, wenn sie wohl aus genau der Schicht kommen werden, die das Bildungsbürgertum so oft bestrebt zu erreichen).
Zurück zu den Autos, dem Lieblingsstatussymbol der Deutschen (nicht ohne Grund, war es doch die Automobilwirtschaft, die nach dem zweiten Weltkrieg das deutsche Wirtschaftswunder mit antrieb - nicht ganz frei von Altlasten, aber, das ist alles ein anderes Thema…). Natürlich ist ein Auto für alle die vor allem ein Mittel zur Selbstverwirklichung, die frei von Zwängen sind. Wer in der Stadt lebt und Ubahnstationen in Laufweite hat, vergisst schnell, wie es ist, auf dem Land zu leben, wo der Bus abends nur noch zwei Mal pro Stunde fährt. Wer nicht pendeln muss, kann nicht erahnen, wie anstrengend dieselbe Strecke tagtäglich ist, wieviel Zeit aufgefressen wird von Staus und wie wenig frei sich Autofahren anfühlt. Wer sich ein neues, umweltschonendes Auto leisten kann, kann schnell auf die dreckigen Altfahrzeuge der 80er und 90er gucken, die anderen Menschen das Überleben sichern. Wer all diese Privilegien genießt, kann ein selbst fahrendes Auto - und die zwangsläufigen Möglichkeiten, die in ferner Zukunft locken - auf Datensammeln reduzieren - und auf ein Lenkrad.
Und in der selben Logik steht man auch all den anderen Errungenschaften der digitalen Welt gegenüber: sein eigenes Netzwerk aufbauen und pflegen, soziales Kapital akkumulieren durch Xing oder Facebook oder Twitter oder Blogs oder Youtube oder … - das ist natürlich leichter zu belächeln, wenn man sich in Netzwerken bewegt, die sich in Gesellschaften bewegen, zu denen weniger privilegierte Gruppen keinen Zugang haben, ob durch fehlende finanzielle Mittel oder den nötigen Stallgeruch. Schon jetzt erleichtern soziale Netzwerke im Netz und Jobbörsen wie Monster oder Stepstone die Jobsuche erheblich. Bewerbungsverfahren lassen sich online recherchieren, in Foren kann man sich austauschen - ohne zu einer Gruppe zu gehören, wo in der Vorgängergeneration noch die Eltern die beruflichen Chancen miteinfädelten.
Die digitale Spaltung, mal wieder
Nun ist klar, dass die Datenakkumulation durch Organisationen wie die NSA (oder den BND) die Freiheit aller Menschen einschränkt (oder zumindest das Potenzial dazu hat), und die Selbstbefähigung verantwortungsbewusst mit den eigenen Daten umzugehen, bleibt ein notwendiges Instrument für die Zukunft. Jedoch komme ich nicht umhin, die vielen repetitiven Artikel nun anders konnotiert zu lesen: insofern, dass bitte die Teile der Gesellschaft, die bisher undurchdrungen von Außenseiter_innen ihrer Privilegien frönen konnten, unbehelligt weiter machen können sollen. Da dabei die meisten Texte aus Sicht selbst privilegierter Autor_innen geschrieben wurden (was ohnehin auch problematischer Teil des Journalismus ist), klammert der Diskurs die vielen Chancen (und Risiken) für alle gesellschaftlichen Schichten jenseits des Bildungsbürgertums oftmals aus.
Die zu stellenden Fragen der Gegenwart sind unbequemer und unangenehmer für eine demokratische Gesellschaft, als uns der Diskurs wahrhaben lassen möchte: wie kann es sein, dass Angebote wie Wikipedia oder Google mehr für die Bildung eines ganzen Generationenteils tun, als die Schule? Wieso bedarf es erst eines Facebooks oder eines Xings, damit sich Kinder aus nicht-akademischen Schichten eigene (professionelle) Netzwerke strukturiert aufbauen und pflegen können? Warum wird das Problem der Monetarisierung von Inhalten im Netz immer wieder thematisiert, und Werbung problematisiert, ohne dabei zu behandeln, warum sich überhaupt ganze Bevölkerungsgruppen gar keinen bezahlten Content leisten können? Wie kann man sich über heftig.co und Bild.de und so weiter wundern und empören, wenn die eigenen Angebote klar in Wortlaut, Aufbereitung und Vermarktung nur an die eigene Schicht gerichtet sind?
Der Diskurs über Google, Facebook und die bösen Großkonzerne ist ein Strohfeuer, das uns von der eigentlichen Problematik ablenkt. Die digitale Revolution gefährdet Privilegien und Status und bietet doch nicht für alle gleiche Chancen. Die digitale Spaltung ist bereits Realität, und wird sich weiter verschärfen, wenn wir nicht gegenlenken. Alle Debatten, die wir führen, sind wertlos, wenn wir nicht unsere eigenen, bildungs- oder klassengegebenen Privilegien dabei berücksichtigen und hinterfragen. Wer kann es sich leisten, Daten zu schützen, Emails zu verschlüsseln und auf Dienste zu verzichten? Wer nicht? Warum nicht? Wer kann es aus Mangel an digitaler Bildung oder Befähigung nicht?
Aber vor allem sollten wir nicht der Mär von Gut gegen Böse aufsitzen, von schrecklichen und absolutistischen Zukunftsszenarien, von falsch eingesetzten Wörtern wie Technokratie. Mit neuen Möglichkeiten, Mitteln und Wegen kommen neue Verantwortlichkeiten. Wenn wir uns jetzt dieser Verantwortung nicht stellen, können wir es gleich lassen.
tl;dr
Es gibt kein tl;dr. Lest den Text.
@FrDingens tl;dr vorschlag: netz wirft geprägte gesellschaftl. hierarchien durcheinander das führt zu angst bei privilegierten schichten
— ☭Ekelprinzessin☭ (@ekelias) June 25, 2014
*das Internet ist kein Allheilmittel. Schon allein der Fakt, dass große Bevölkerungsteile immer noch keinen Zugang zu selbigem haben, ist ein Problem. Weiterhin kommen ökonomische, kulturelle und edukative Probleme bei Umgang und Nutzung dazu. Dennoch glaube ich, dass das Netz mehr Potenzial bietet als viele andere Maßnahmen der letzten Jahrzehnte, zuletzt die Bildungsreform der 60er/70er Jahre.
Der Text ist leider nicht in einfacher Sprache geschrieben, und dafür entschuldige ich mich. Verständnisfragen können gerne an mich gestellt werden.


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