Liest man sich durch die Diskussionen zu netzpolitischen Themen, und vor allem, tut man das regelmäßig, dann bekommt man schnell das Gefühl in einer Zeitschleife gefangen zu sein. Man gebe je eine Packung Überwachung, Urheberrecht und Verschlüsselung zusammen, packe eine Prise Technokratiekritik und Digital Natives dazu, und lasse das ganze gut ziehen. Noch ein paar Modethemen wie Big Data oder einfach „Youtube“ dazu, fertig. Dann dürfen einige Vertreter der Szene mal ein paar Artikel in der FAZ und der ZEIT und bei SpiegelOnline platzieren, vielleicht provoziert man jemanden der politischen Riege auf Twitter zu einer Äußerung, macht noch mal ne News draus, und fängt dann wieder von vorne an.
Doch gibt es wirklich nur diese wenigen Themen, von denen die meisten ohnehin keine traditionellen netzpolitischen sind? Nehmen wir Überwachung – klar, das kann man technisch betrachten, aber im Kern ist das ein außenpolitisches Thema wenn es sich um Spionage durch andere Nationen handelt, und ein innenpolitisches wenn es um Überwachung der eigenen Bürger_innen geht. Die netzpolitische Szene in Deutschland versucht seit Jahren – VDS, Snowden Leaks, usw. – Anschluss zu finden an die Politik, übersieht dabei jedoch, dass diese Themen mehr als nur Überwachungstechnik und reaktive Verschlüsselung umfassen. Es geht in der deutschen Netzpolitik immer wieder um Technik, um technische Lösungen, um mal abstrakte, mal konkrete Gefahren und Konzepte. Im schlimmsten Fall, wie gerade beim Urheberrecht, werden vergangene Bemühungen mit dem Hinweis auf „Nerds“ abgetan.
Dabei gibt es noch eine Fülle von Themen, denen sich die deutsche Netzpolitik – oder „Netzgemeinde“, denn eine Techkultur mit Varianten kritischer Stimmen scheint in Deutschland kaum existent, Selbstreflexion und Agendasetting Fehlanzeige – widmen könnte, und durch die man auch mal außerhalb der eigenen Aktionsblase punkten könnte (wie man selbst mit drögen Themen wie der Netzneutralität Menschen erreicht, machte John Oliver bereits letztes Jahr vor).
Da wäre zum Beispiel die digitale Spaltung in all ihrer Vielfalt. Und nein, damit ist nicht nur der eher mühsam voranschreitende Breitbandausbau gemeint (oder der Fakt, dass Deutschland in Europa eher Schlusslicht bei der Abdeckung ist), auch wenn das sicher ein bisschen mehr Engagement wert wäre. Die digitale Spaltung, bei der Menschen mit begrenztem Zugang zur Wissensgesellschaft immer stärker zurück fallen, ist komplexer als das. Schon heute läuft ein signifikanter Teil von Recherchen zu Jobsuche, Schule, Uni oder simpel das in Kontakt bleiben übers Netz. Zu große Teile der Gesellschaft scheitern an sozio-ökonomischen Hürden und nehmen am digitalen Leben der Gesellschaft nur rudimentär teil.
Betrachtet man in diesem Kontext dann den Zustand der Digitalisierung der öffentlichen Einrichtungen, zeichnet sich für die nächsten Jahre ein kaum besseres Bild ab. In Diskussionen wird immer noch von „digitaler Zukunft“ und „digitaler Bildung“ gesprochen, so als würde die digitale Revolution erst in zehn, fünfzehn Jahren relevant werden und wäre nicht schon seit genauso langer Zeit längst in vollem Gange. Ideen, die über Kurzschlussreaktionen wie „Programmiersprache in der Grundschule für alle“ hinausgehen, werden zu selten diskutiert. Stattdessen wird digitale Bildung wieder einmal auf die technologische Ebene verkürzt, so als wäre alles, was die Digitalisierung für Konsequenzen hätte, herunterbrechbar aufs Lernen einer Programmiersprache. Konkrete Ansätze wie eine verbesserte Lehrmittelausstattung, die Einbindung von Medienpädagogik in den Lehrplan für Lehramtsstudierende, Open Access oder gar Open Education bleiben zugunsten von Nebelkerzen auf der Strecke.
Andere Bereiche der öffentlichen Verwaltung werden gar nicht debattiert – dabei böte ein digitales Jobcenter enorme Potenziale. Onlinenetzwerke zur Jobsuche nutzen oder Supportgruppen für die vielen durch Hartz IV und Langzeitarbeitslosigkeit depressiv gewordenen Menschen einrichten, organisiertes Wissensmanagement und Vermittlung von tatsächlich hilfreichen Schulungen anstatt reinen Beschäftigungsmaßnahmen, E-Learning von zu Hause aus für Menschen, die es nicht mehr gewohnt sind unter Leute zu gehen – die Möglichkeiten sind zahlreich. Die Agentur für Arbeit ist ohnehin längst einer Reform überfällig, warum das nicht gleich mit einer digitalen Re-Strukturierung verbinden?
Natürlich gibt es auch Themen, welche die Netzgemeinde unmittelbar betreffen. Die Diversität in Tech und STEM Feldern lässt auch in Deutschland noch zu wünschen übrig. Betrachtet man die Beiträge in deutschen Medien zu Netzpolitik, so ist die überwältigende Mehrheit von weißen Männern verfasst worden. Vielleicht in Zusammenhang damit steht dann auch, dass Freiheit im Netz immer noch vorrangig als Freiheit von staatlicher Überwachung verstanden wird. Dies ist natürlich ein hehres Ziel, das wohl die meisten auch so unterstützen. Andererseits wird damit die sich nicht erst seit #Gamergate auf dem Vormarsch befindende Kultur von Einschüchterung und Bedrohung unliebsamer Personen im Netz kleingeredet, die im Grunde auch eine Form von Überwachung ist, jedoch von selektierten Gruppen und durch Privatpersonen. Doch was ist das schon im Vergleich zu einer diffusen staatlichen Überwachung? Verschiedene Minderheiten werden online und offline zum Schweigen gebracht, bedroht, verleumdet, belästigt. Was für diese Gruppen Alltag ist, ist für andere nicht einmal eine Erwähnung in der Freiheitsdebatte wert.
Und die mangelnde Diversität in den Online-Communities führt dann eben auch dazu, dass verschiedene Editor_innen bei Wikipedia frustriert das Handtuch schmissen, ausgelöst durch ein Unterlaufen der Seitenadministration durch Gamergater. Man kann da nur hoffen, dass sich #Gamergate bald die Wiki-Artikel zu Überwachung vornimmt, vielleicht zuckt sich die Netzgemeinde dann auch zu etwas mehr Engagement gegen Hass und Gewalt im Netz – oder, kurz gesagt: für Freiheit im Netz.
Netzpolitik war schon immer Gesellschaftspolitik, ein Bereich der nicht klar abgrenzbar sondern voller Überschneidungen mit anderen Themengebieten ist. Vor allem fehlt in Deutschland die Bespielung netzpolitischer Diskurse durch alternative und diverse Stimmen aus Tech, Politik und Kultur. Die deutsche Netzszene ist unerträglich homogen, nicht nur in ihren Themen. Aber wem sag ich das, und nicht erst seit gestern. In diesem Sinne…
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Titelbild: Lichtung, Sascha Kohlmann, zugeschnitten auf 1200×800, unter CC BY-SA 2.0

